Das dritte Märchen aus der Trilogie "Bhani und die Menschen"
    Teil I: Bhani
    Teil II: Die Menschen
    Teil III: Borgha

    Zwischen den Bäumen bei den letzten Ausläufern des Waldes setzte eine geschmeidige Gestalt in großen Sprüngen über Steine und Stämme. Die Sonne schob sich eben über den Horizont - und außer Atem blieb Borgha stehn. Er schloss geblendet die Augen vor dem gleißenden Weiß des Schneefeldes.

    So stand er, an einen Baum geschmiegt - und beobachtete scharf die Hütten, die keinen Steinwurf weit vor ihm lagen. Als sich in der vordersten etwas regte und bald darauf der Rauch dichter aus dem Abzugsloch stieg, ging er vorsichtig darauf zu - immer lauernd, um beim geringsten Zeichen von Feindseligkeit mit einigen Sätzen wieder im Wald untertauchen zu können. Aber nichts regte sich, außer dem Rauch, der in dichten Wolken emporquoll.

    "Ich bin Borgha", sagte er zu dem Mann in der Hütte, "ich bin lange gegangen. Hast du zu essen?"

    Der Mann schaute vom Feuer hoch und wischte sich den Rauch aus den tränenden Augen. Borgha erschrak, als er das rußige Gesicht mit dem wilden Haarwuchs darin sah. Er machte einen Schritt zurück und redete dann schnell weiter: "Meine Mutter ist Alki. Ich suche meinen Vater Woda. Hast du etwas zu essen?"

    Der Bärtige stand auf. Er ging auf Borgha zu und betrachtete ihn. Einige Atemzüge lang standen sie so voreinander. Der eine ruhig - mit durchdringendem Blick, der andere angespannt und stets bereit, sich blitzschnell zu ducken und über den Schnee davon zu hetzen. Endlich tat der Bärtige seinen Mund auf:

    "Ich hatte einmal eine Schwester, die Alki hieß. Sie muss schon lange tot sein. Wenn du ihr Sohn bist, komm herein und iss mit mir."

    Sie aßen schweigend. Und Borgha dachte angestrengt nach, ob er dem Fremden erzählen sollte von der Mutter. Aber dann verwarf er den Gedanken wieder und war eine ganze Zeitlang voll damit beschäftigt, zu begreifen, dass der andere auch ein Mensch war, genau wie er und seine Mutter. Und da waren seine Gedanken am Ende des Kreises und wieder bei Alki. Vielleicht bemerkte sie gerade jetzt - während er dies dachte - dass er verschwunden war. Und vielleicht würde es sehr lange dauern, bis sie verstand, dass er ausgezogen war, den Vater zu suchen.

    "Ich bin Hhami", sagte der Bärtige, als er die letzte getrocknete Beere aus dem Weidenkorb in den Mund geschoben hatte.

    "Und je länger du da bist, desto mehr meine ich, dass du mein Schwestersohn bist. ("Was ist das, Schwestersohn?") Bei den Hütten - eine halbe Tagesreise von hier, immer der aufgehenden Sonne entgegen - wohnt Woda. Ich habe ihn nie bei Alki gesehen."

    "Ich komme wieder, wenn ich ihn gefunden habe!"

    Borgha stand auf, verneigte sich vor dem Oheim (unwillkürlich, und ohne zu wissen, dass man das tut). Vor der Hütte drehte er sich noch einmal um und rief in das Dunkel, aus dem nur das Feuer glühte:
    "Dank für das Mahl!"

    Dann wandte er sich gegen die Sonne und fiel in leichten Trab, um warm zu werden.

    Noch am gleichen Abend stand er wieder in Hhamis Hütte.

    "Hast du ihn gefunden?", fragte dieser.
    Und finster antwortete Borgha:
    "Ich habe ihn gefunden".
    "Hat er dich erkannt?"
    "Nein".

    Hhami drang nicht weiter in ihn, sondern brachte den großen Korb mit den Wintervorräten. Borgha winkte ab und holte ein Bündel herein, das er vor der Hütte in den Schnee gelegt hatte.

    "Ich habe uns etwas Besseres mitgebracht. Sei mein Gast!"

    Er rollte aus einer geflochtenen Binsendecke ein ausgeweidetes Tier.

    "Ein Luchs. Er sprang mich an, da habe ich ihn getötet."

    Hhami musterte den Jüngeren mit einer Mischung aus Entsetzen und Bewunderung, während dieser das Fleisch auseinanderriss, auf kleine Holzstücke spießte und über die Glut hielt. Borgha reichte dem Oheim das beste Stück. Kein Muskel regte sich in seinem Gesicht, als dieser den ersten Bissen schimpfend ausspie, weil er sich den Mund verbrannt hatte.

    "Iss ruhig weiter. Du musst es nur etwas abkühlen lassen."

    Und dann - nach einer Pause - während er selbst nach dem nächsten Stück des erlegten Raubtiers griff und in das saftige Fleisch biss - sagte Borgha fast im gleichen Ton:
    "Woda kannte mich nicht. Auch Alki kannte er nicht. Als ich darauf bestand, er sei mein Vater, schlug er mich. Ich langte ganz leicht nach ihm. Wie nach meinem Bären, wenn er mich beißen wollte. Woda war alt und kraftlos. Er fiel um wie ein Käfer."

    Am nächsten Morgen waren sie da. Borgha hörte zuerst das Geschrei, das rasch näher kam:

    "Hier läuft seine Spur! Da muss er sein! Heraus, Fremder!"

    Dann lauschte auch Hhami. Er stieß den Gast an und zischte:
    "Versteck dich!"

    Borgha aber stand auf und trat unter den Eingang von Hhamis Hütte. Er fragte die Gesichter, die da auf dünnen Körpern standen:
    "Was wollt ihr?"

    "Das ist er! Das ist er!", schrie einer aus der Horde.

    Sie hatten zuerst die Hütte umzingelt, und die an der Rückwand gestanden hatten, schoben sich jetzt um die Ecke, um den zu sehen, der Woda getötet hatte. So umlauerten sie ihn, dicht an dicht, leicht vorgebeugt und mit herabhängenden Armen - die vordersten keine drei Schritte von ihm entfernt.

    "Sagt mir, was ihr wollt!"
    "Warum hast du Woda getötet?"
    "Weil er mein Vater war".

    Einige Augenblicke herrschte Schweigen. Die fremden Männer sahen einander verblüfft an vor dieser Begründung. Doch dann kam der vorderste noch einen halben Schritt auf Borgha zu und geiferte:
    "Du lügst. Kein Sohn tötet seinen Vater!"

    Borgha wandte sich um und fragte kalt in die Hütte hinein:
    "Hhami! Wer sind diese, und was tut man mit ihnen?"

    "Es sind Verwandte Wodas. Einige dich mit ihnen", kam es furchtsam aus dem Innern.

    Borgha wandte sich wieder den Fremden zu:

    "Sind Söhne oder Brüder Wodas unter euch?"
    "Wir sind alle seine Verwandten".
    "Gut", sagte Borgha, "dann seid ihr auch meine Brüder. Was verlangt ihr von mir?"

    Der vorderste schob sich noch ein Stückchen auf ihn zu:
    "Geh hin, wo du hergekommen bist! Und lass dich nie mehr unter den Menschen blicken! Zum Zeichen der Buße, und damit jeder dich erkennt, dem du dich nahst, werden wir dir ein Zeichen auf die Stirn ritzen."

    Borgha schaute den Sprecher lange und durchdringend an - bis dieser mit dem Blick auswich. Dann schaute er den anderen in die Augen - allen, einem nach dem anderen - so wie er im Wald den Bären und Wölfen in die Augen blickte. Und wie die Bären und Wölfe seinem Blick nicht standhalten konnten, so mussten auch diese die Augen senken. Schließlich standen sie unruhig aber schweigend um ihn, schauten auf das Dach von Hhamis Hütte oder auf ihre Füße und traten von einem Bein auf das andere. Heiß schoss ein namenloses Gefühl in ihm hoch, als er sah, dass er ebenso über die Menschen Macht hatte wie über die Tiere. Dennoch sprach er ganz unbewegt in die Stille:
    "Ich werde nicht mehr zurückgehen. Wohin ich gehen werde, weiß ich noch nicht. Euch aber werde ich nicht danach fragen. Woda schlug mich, darum schlug ich ihn auch. Und wer von euch Schläge will, der möge kommen und mich zeichnen!"

    Da stürzten sie sich auf ihn. Borgha stand wie ein Baum. Er überragte beinahe alle um Haupteslänge. Er ließ sie toben und wischte nur ab und zu einen beiseite, der zu hartnäckig auf ihn einschlug. Als sie erschöpft waren und ihn keuchend umstanden, rief er plötzlich:
    "Seht euch vor, Pflanzenfresser, jetzt bin ich dran!"

    Der erste in dessen Richtung Borgha einen Schritt tat, drehte sich mit einem Schrei um und stürzte in wilder Flucht davon; und bevor er sich dem nächsten zuwenden konnte, stob der ganze Haufen in panischer Angst quer über den Schnee auf den Wald zu und dann am Saum entlang. Sie rannten in weit auseinandergezogenem Feld, bis der Horizont sie verschluckt hatte.

    Da tat Borgha etwas, was nie ein Mensch vor ihm getan hatte: Er lachte. Er lachte, dass es weit über den Schnee hin durch die Stille dröhnte. Hhami zuckte zusammen, als er dieses Lachen hörte, und die Bewohner der anderen Hütten, die sich neugierig genähert hatten, krochen schnell in das beruhigende Dunkel ihrer Behausungen zurück.

    Borgha aber ging von dem zerwühlten Kampfplatz und trat neue Stapfen in den unberührten Schnee. Es machte ihm beinahe die gleiche Freude wie Tiere bezwingen oder Menschen töten. Und ein Seufzen stieg bei jedem Schritt aus dem zertretenen Schnee und eilte durch das Land; eine Ahnung, dass es nun ein Ende habe mit dem unbeschwerten Leben, das Bhani den Menschen gegeben hatte. Und an den Hüttenfeuern raunten sich die Menschen zu, dass Borgha unterwegs sei, sie das Lachen und das Fürchten und den Fortschritt zu lehren.

    Borgha stampfte und sprang und lachte. Wenn er eine Verwehung fand, stieß er den Fuß mit Schwung hinein, dass der Schnee weithin spritzte. Und wenn er unter dem Schnee mit voller Wucht gegen einen Baumstumpf oder einen Stein stieß, lachte er nur noch mehr und tobte humpelnd weiter.

    So trieb er es - weit von den Hütten der Menschen - bis der Abend über das Land eilte und diesem die Nacht folgte. Da blieb er stehen, der Schweiß trat ihm aus allen Poren, sein Herz raste, und sein Atem ging rasch und keuchend. Unwillig bemerkte er, dass auch seine Kraft ein Ende hatte. Und mit dieser Erkenntnis war auf einmal Bhani um ihn, und seine Mutter stand neben ihm, zeigte ihm die Sterne und sagte:
    "Das ist Bhani. Seine Liebe ist in uns."

    Und obwohl Borgha die Nähe des großen Geistes spürte, richtete er sich hoch auf und schrie in die fahle Nacht:
    "In mir ist keine Liebe Bhanis!"

    Bhani umhüllte ihn ganz dicht, als er das hörte, und sprach:
    "Borgha, warum verdirbst du meine Menschen? Warum tötest du meine Tiere und eignest dir die Kraft an, die ihnen gebührt? Warum lehrst du deine Brüder, dass sie sterben müssen? Bevor du kamst, haben sie sich ernährt und sich geliebt und das Feuer in Gang gehalten, das ich ihnen gab. Nun kommst du und sagst ihnen, das Leben sei mehr als das! Warum gibst du dich nicht zufrieden wie sie?"

    Borgha bedachte sich eine Weile und antwortete dann:
    "Bhani, deine Liebe ist nicht in mir, und deine Seele ist nicht in mir und dein Leben nicht. Denn mein Vater zeugte mich aus Langeweile, ohne meine Mutter zu lieben. So konnte deine Liebe und deine Seele nicht zu mir gelangen. Mein Leben aber ist deshalb auch nicht von dir, sondern von Woda, und da ich ihn tötete, ward es mein. Und nun lass mich gehen, wohin es mir beliebt!"

    Bhani wurde sehr traurig, als Borgha ihm so trotzte. Aber er wollte den Dingen nicht ihren Lauf lassen, denn in seiner Weisheit sah er, dass der unzufriedene Borgha, der in seine Lämmerherde eingebrochen war, die Menschen auf einen schlüpfrigen Weg führen würde, der sie bis in seine, Bhanis, Nähe leiten konnte. Aber er sah sie künftig in Reihen ausgleiten und fallen, und er sah sie viel Böses begehen mit ihrem Wissen und ihrer Macht, und ganz wenige sah er, die das Ziel erreichten. Darum wollte er ihnen ihre Geborgenheit erhalten und lockte Borgha, den Menschen, der die schöne Sorglosigkeit von sich stieß:

    "Borgha, sage mir, ob du teilhaben willst an meiner Seele! Es soll dir gewährt werden."

    Borgha aber antwortete:
    "Meine Mutter hat mich allein geboren. In einer Höhle hüteten wir das Feuer, das uns ein Blitz gab. Die reißenden Tiere des Waldes waren mir untertan und spielten mit mir. Und als die Früchte des Waldes nicht mehr für uns beide reichten, begann ich Tiere zu essen, und ich wurde stark davon. Und als ich zu den Menschen kam, war ich auch stärker als sie. Ich habe meine Kraft und die Macht über Mensch und Tier. Was brauche ich deine Seele! Geh zu deinen Menschen, Bhani, und sage ihnen, Borgha käme! Sie sollen sich rüsten, ihn zu empfangen!"

    Da wandte Bhani sich ab und ließ Borgha gehen, wohin er wollte. Da er aber gesehen hatte, dass die Menschen nicht wie er ewig sein können, setzte er die Zeit in Bewegung, die die Menschen weiter und aufwärts, aber unaufhaltsam ihrem Ende entgegen trug. Und er gab der Menschheit noch so viele Jahre, wie er Sonnen und Planeten in seiner Welt hatte.

    Borgha aber ging durch die Zeit; in zwiefacher Gestalt lehrte er die Menschen, das Paradies zu verachten. Er zeigte ihnen den Fortschritt, und wenn sie das Neue begriffen hatten, kam er wieder und zeigte ihnen, wie man es missbrauchen konnte. Er lehrte sie die Heilkunst, und wenn daraus neue Krankheiten entstanden, lehrte er sie, auch diese zu heilen, und als die Zahl der Gebrechen unübersehbar war, verließ er sie. Er lehrte sie Schiffe bauen, als Bhani sein misslungenes Werk in der großen Flut auszulöschen trachtete; und als Bhani sich erbost ob solchen Trotzes von ihnen abkehrte, sagte er ihnen:
    "Bhani ist nie gewesen, ihr habt ihn euch erfunden. Gebraucht euren Verstand und vergesst ihn!"

    Er lehrte sie die schnellere Fortbewegung, und sie rasten sich zu Tode. Er zeigte ihnen das Eigentum und den Diebstahl. Er brachte ihnen den Handel und den Betrug. Er gab ihnen Waffen, um Tiere zu erlegen, und unterwies sie im Menschenmord. Er hieß sie, Gemeinschaften zu bilden und sich zu Staaten zusammenzuschließen, und dann ließ er sie gegeneinander antreten und freute sich an ihrer Dummheit, wenn sie sich zerfleischten und dies auf ihre außerordentliche Klugheit zurückführten.

    Und die Menschen folgen Borgha willig durch die Zeiten und sehen nicht, dass er sie ihrem Untergang entgegenführt, denn die Menschen sind blind, seit sie hinter Borgha hertorkeln. Und wenn auf dem schlüpfrigen Grat ihr Vordermann ausgleitet, so triumphieren sie - und beeilen sich, seinen Platz einzunehmen - und stürzen im nächsten Augenblick selbst in die lautlose Tiefe. Und noch bevor sie unten aufschlagen, ist schon ihr Hintermann unterwegs, sich zu ihnen zu gesellen.

    Bhani aber grollte, und er beschleunigte die Zeit zu hektischer Hast, und die Menschen hasteten mit. Und wenn sie jetzt länger leben, so leben sie doch weniger; denn wenn ein Jahr verstrichen ist, so haben sie davon nur einen Monat gelebt.

    Und als die Uhr fast abgelaufen und die vorgegebene Zeit beinahe erfüllt war, verwirrte Bhani ihren Geist vollends, und sie bauten aus der Kraft, die Borgha ihnen zeigte, eine Sense, die sie alle mit einem Strich niedermähen konnte.

    So weit hatten sie es gebracht. So weit, dass jeder sich vor sich selbst und allen anderen ängstigte. In jäh aufflammendem Schrecken jagten sie hinter jedem fliegenden Funken her, ihn zu erhaschen und auszulöschen, damit er ja nicht in das Pulverfass falle. Hatten sie ihn unschädlich gemacht, gingen sie wieder an ihre Arbeit und häuften weitere Berge von Pulver in das Fass, bis der nächste Funke die nächste aufreibende Jagd auslöste.

    Die gefährliche Sense gaben sie Borgha, sie einzuschließen, damit sie niemandem weh tun könne. Als aber die Uhr 12 schlug, führte Bhani die Hand Borghas, und er setzte die Sense an und mähte einen einzigen Strich.

    Da schwieg die Uhr, und in der Welt wurde es sehr still. Denn die Menschen, die die Erde und zuletzt auch das All mit ihrem Angstgeschrei erfüllt hatten, waren nicht mehr. Als die Staubwolken sich gesenkt hatten, glitzerte das Eis auf dem Pfade der Menschheit in der Sonne (denn in all den Zeiten hatten die Menschen nicht genug Wärme aufgebracht, es zu schmelzen und den Weg zum Gipfel sicher zu erklimmen), und wenn es noch einen Beschauer gegeben hätte, er wäre weise und fromm geworden über dem friedlichen Anblick, den die verlassene Erde bot.

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    Text: Peter Hohl
     
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    Letzte Änderung: 27. November 1999
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