Die Märchentrilogie "Bhani und die Menschen" ist im Jahr 1962 entstanden.
Sie setzt sich in drei Teilen mit den Fragen auseinender, die den damals gerade
21jährigen Autor am meisten bewegten:
- Warum ist die Welt so wie sie ist?
- Warum verhalten sich die Menschen so wie sie sich verhalten?
- Welcher Teufel hat uns zu Hütern der Atombombe gemacht?
Der erste Teil "Bhani" ist eine Schöpfungsgeschichte, die so gravitätisch daherkommt wie man das von Schöpfungsgeschichten gewöhnt ist. Ein stilistischer Kunstgriff, der den Leser zunächst an Vertrautes glauben lässt. Aber hinter der Maske des vermeintlich Bekannten baut sich immer massiver ein substanzieller Gegensatz zu der biblischen Geschichte auf:
Menschen stellen sich - vielleicht natürlicherweise - vor, dass der Schöpfer so arbeitet wie sie selbst vorgegangen wären: Eins nach dem anderen, innerhalb einer vorstellbaren Zeit, mit vernünftig aufeinander aufbauenden Teilplänen und mit der Zufriedenheit über erreichte Zwischenergebnisse, die für den nächsten Schritt motiviert. Wie bei menschlichen Schöpfern gibt es deutlich unterscheidbar hier den Meister und dort sein Werk. Wir brauchen für unser Vorstellungsvermögen einen Anfang und ein Ende jeder Tätigkeit. Die biblische Schöpfungsgeschichte ist stark von dieser menschlichen Vorstellung geprägt. Sie ist zu einer Zeit entstanden, als auch das Bild unserer Welt noch innerhalb des menschlichen Vorstellungsvermögens gefangen war. Inzwischen wissen wir, dass wir es mit einem Schöpfer zu tun haben, dessen geistige Fähigkeiten von uns nicht einmal andeutungsweise zu erfassen sind. Mit einem Schöpfer, der in der Lage ist, den Kosmos mit einem gekrümmten Raum auszustatten, ein Weltall zu schaffen, das nicht unendlich ist, aber dennoch kein Ende hat, die Materie aus 11-dimensional schwingenden Superstrings aufzubauen und Naturgesetze zu postulieren, die ein unglaublich komplexes System von Gravitations- und Zentrifugalkräften ausbalancieren. Und niemand von uns kann sicher sagen, dass die Schöpfung dieser Welt abgeschlossen ist. Vieles spricht dafür, dass wir uns mitten im Schöpfungsakt befinden und dass wir lediglich innerhalb der begrenzten Zeitspanne, die wir überblicken können, fälschlicherweise einen Zustand wahrnehmen, wo in Wirklichkeit ein Vorgang abläuft. Ohne Frage hat nicht Gott die Menschen nach seinem Bilde geschaffen. Es war wohl umgekehrt: Die Menschen besaßen kein anderes Bild als ihr eigenes und haben es darum auf Gott übertragen. Auch die Religionen, die bewusst darauf verzichten, Gott bildhaft darzustellen, können nicht anders als ihn mit menschlichen Eigenschaften und menschlichen Verhaltensweisen auszustatten - einfach weil wir Menschen nicht fähig sind, in mehr als drei Dimensionen zu denken.
Bhani lehnt sich im Gegensatz zum biblischen Gott nicht nach jedem Teil-Gewerk selbstzufrieden zurück und "sah, dass es gut war". Zwar geht auch er zunächst so vor wie ein Mensch, wenn er als Subjekt ein Objekt erschafft. Aber solange er auf Distanz zu seinem Werk bleibt, so lange lässt ihn das Ergebnis unzufrieden. Erst als Schöpfer und Schöpfung eins werden, erst als Gott und die Welt, als Schöpfungsakt und Schöpfungsergebnis nicht mehr auseinanderzuhalten sind, wird daraus ein Werk, mit dem auch ein Wesen zufrieden sein kann, in dem alle Weisheit ist.
Der Name Bhani beruft sich nicht auf eine angebliche Überlieferung oder eine unüberprüfbare Offenbarung, mit der Religionsstifter im Konkurrenzkampf um Anhänger gern ihre Glaubwürdigkeit unterstreichen. Jeder andere Name wäre genau so gut. Bisher hat niemand vor Gottes Wohnung gestanden und den Namen am Klingelschild abgelesen. Insofern kann jeder Bhani ersetzen durch jeden anderen bekannten oder neuen Namen für die Macht, die die Welt gestaltet hat, bevor wir Menschen sie bei unserem ersten Auftritt vorgefunden haben. Jahve oder Allah, Elohim oder Shiva, Zeus oder Apollo, Aton oder Thor - alles sind Phantasienamen, die nicht weniger aber auch nicht mehr Berechtigung haben als Bhani. Denn auch, dass man einen Namen haben muss, ist eine außerordentlich menschliche Vorstellung. Menschen brauchen Namen, weil es viele gibt und man sie unterscheiden muss. Ein Name für ein einmaliges Wesen ist so unsinnig wie ein Streit darüber, ob die Sonne Georg oder Angelika heißt. Wäre das Märchen nicht 1962 entstanden, sondern im Computerzeitalter, ich bin sicher, Bhanis Name bestünde aus dem Zeichen für beliebige Buchstaben: *****. Aber ein Text gehört immer auch in seine Zeit; und darum bleibt es bei Bhani.
Interpretation "Die Menschen"
Die Entstehungszeit und die bis dahin 21jährige Lebensgeschichte des Autors ist auch im zweiten Märchen spürbar. Er hatte mit drei Jahren im zweiten Weltkrieg seinen Vater verloren. Seine Mutter verbrachte anschließend mehr als 50 Jahre als Witwe. Peter Hohl hatte mit gerade 21 Jahren sechs Semester Germanistik und Geschichte, vier Semester Schauspielschule und nach dem Abitur drei Jahre Arbeit für den Lebensunterhalt hinter sich (doch, doch! Das geht, wenn man alles parallel betreibt). Er war seit kurzem verheiratet und im Begriff, selbst zum erstenmal Vater zu werden.
Die 50er und anfangs auch die 60er Jahre waren nicht nur vom Wirtschaftswunder geprägt, sondern - bevor die Pille die sexuelle Befreiung auslöste - auch von Prüderie und den Maximen überheblicher Moralapostel. Eine uneheliche Schwangerschaft war eine absolute Katastrophe, die den Verlust des gesellschaftlichen Ansehens, einen Umzug in eine andere Wohngegend oder sogar Selbstmorde nach sich zog. 1962 musste ein Text nicht begründen, warum ein "gefallenes Mädchen" nicht mehr zu ihrem Vater und ihren Brüdern zurückkonnte. Heute müsste ein Autor sich umgekehrt etwas einfallen lassen, warum Alki nicht einfach in den Schoß der Familie zurückkehrte und ihr Kind dort aufzog.
Auch das zweite Märchen ist doppelbödig. Vordergründig eine kleine, stark geraffte Erzählung, die in wenigen kraftvollen Strichen ein Bühnenbild für das aufziehende Verhängnis entstehen lässt. Da gibt es einen Sohn namens Borgha, der ohne Liebe aus einer Augenblickslaune gezeugt ist, der nicht versteht, was Vater ist, und der ohne Abschied seine Mutter verlässt, um die Menschen draußen aufzusuchen. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich im Hintergrund vorzustellen, dass mit Borgha etwas Neuartiges die bis dahin friedliche, beeren- und früchtesammelnde Welt der Menschen betritt.
Aussagen wie "Gott ist die Liebe", "Gott ist allmächtig", aber "Es gibt das Böse" schließen sich eigentlich aus. Wenn Gott oder Bhani die Menschen mit Liebe ausgestattet haben, es aber dennoch - unbestreitbar - Hass und Bosheit gibt, so muss es einen Mechanismus der Weitergabe der Liebe geben, der durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall versagen kann. In der Bhani-Trilogie soll es symbolisch die Liebe bei der Zeugung sein, die das Gute weiterträgt. Die Psychologie lehrt uns mittlerweile, dass Misshandlung und Vernachlässigung in den ersten Lebensmonaten die Fähigkeit zu Güte und Liebe nachhaltig beeinträchtigen können.
Im Gegensatz zu dem biblischen Gott, der sich in der Vorstellung seiner Menschen immer um alles persönlich kümmert und jedes Einzelschicksal im Detail überwacht und lenkt, hat Bhani nur Voraussetzungen geschaffen und Regeln gesetzt, nach denen sich die Dinge - durchaus auch einmal zu seinem Missfallen - selbst entwickeln. Etwa so, wie der Erfinder des Schachspiels alle Schachpartien der Welt ermöglicht und beeinflusst, ohne dass es ihm einfallen würde, jedem einzelnen Spieler die Hand zu führen.
Andererseits: In Bhani, so haben wir erfahren, ist alle Weisheit. Er weiß, dass es nichts Erhabenes gibt ohne etwas, das niedriger ist, dass nichts schön sein kann, wenn es nicht schöner als etwas Hässliches ist. Er weiß, dass es den Tag nur als Gegensatz zur Nacht geben kann und dass das Gute nur existieren kann, wenn es auch das Böse gibt. So gesehen ist das, was im dritten Märchen geschehen wird, vielleicht doch kein Betriebsunfall, sondern weise vorhergesehener Bestandteil der Gesamtschöpfung...
Interpretation "Borgha"
40 Jahre nach Entstehung des Märchens wissen wir, was der Autor 1962 nur geahnt hat: Es gab in der Entwicklung des Menschen tatsächlich einen Punkt, an dem sich die Fleischesser von den Pflanzenessern abspalteten. Der sogenannte robuste Australopithecus mit seiner gewaltigen Kau-Muskulatur für Wurzeln und Knollen blieb auf der Strecke, während der "grazile Australopithecus" Fleisch aß und im Lauf der weiteren Evolution sein Großhirn ausbaute. Der Übergang zur Fleischnahrung - rationellere Zufuhr von Energie und Nährstoffen auf Kosten des Lebens von Mitgeschöpfen - ist bereits in der Geschichte von Borgha ein Symbol für die Ambivalenz allen rationalen Fortschritts: Borgha lehrt die Menschen den Handel und den Betrug, Eigentum und Diebstahl, Politik und Krieg. Borghas Wirken ist überdeutlich spürbar in einer Welt, in der die Medikamenten-Beipackzettel mit der Aufzählung der Nebenwirkungen immer länger werden und in der blind CO2 produziert wird. 40 Jahre nach Entstehung des Märchens hat die Geschichte es einfach fortgeschrieben - mit Gentechnologie und virtueller Allgegenwart und mit einer perfiden neuen Variante der atomaren Bedrohung: Während 1962 zwangsläufig jedem vernünftigen Menschen von morgens bis abends bewusst war, an welchem Abgrund wir lebten, hat das Ende des kalten Krieges uns heute eingelullt: Wir spielen einfach, es gäbe keine Atomwaffen mehr. Wir vergessen schlicht das intakte Zerstörungspotential der ehemaligen Sowjetunion hinter den roten Knöpfen chaotischer neuer Staaten. Wir tun so, als seien Atomraketen in China, Indien oder Pakistan in besten Händen und als sei der Weltuntergang durch Verlagerung der heimischen atomaren Energieerzeugung in die Nachbarländer zu stoppen.
Borgha erscheint zunächst als eine sehr reale Figur. Aber er ist von Anfang an auch Symbol - als Inbegriff des ethik- und moralfreien Fortschritts: Wer stärker ist als ein Luchs, darf ihn auch töten. Er ist als Vatermörder eine Metapher für die Absage an den eigenen Ursprung, für diejenigen Menschen, die sich nicht mehr als Bestandteil und als Abkömmlinge ihrer Umwelt sehen, sondern als deren Beherrscher: Wer stärker ist als die Natur, darf sie auch töten. Er ist ein Kain, der sich erfolgreich gegen ein Kainszeichen zur Wehr setzt. Auch das wirkt fort: Wir alle wissen, wofür man heute gesellschaftlich geächtet und wofür man geehrt wird.
Während des Besuchs in Hhamis Hütte werden wir Zeugen der Emanzipation des neuen Lebensgefühls. Anfangs ist der Naturbursche Hhami selbstsicher und ruhig, während der Technokrat Borgha fluchtbereit bleibt. Am Ende des Besuchs verkriecht sich Hhami ängstlich in seiner Hütte, während Borghas Selbstbewußtsein nicht einmal mehr Gottesfurcht kennt.
Borgha bringt auch eine neue Art von Lachen in die Welt. Dies ist nicht das Lachen, das verbindet. Nicht das freundliche Zähneblecken, das sich schon bei Schimpansen findet. Es ist eher das Lachen des Obersten aus Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür", nur dass es nicht mit Verlegenheit, sondern mit unverhohlenem Triumph gemischt ist. Es ist ein Lachen, das die Unterlegenen erschauern lässt und das Gänsehaut verursacht.
Wer käme an dieser Stelle nicht auf die Idee, dass der Mensch nicht nur Gott, sondern auch den Teufel nach seinem Bilde erschaffen hat!
Auch das ist kein Zufall, sondern vom Autor tückisch angelegt: Obwohl die Verwandten Wodas wegen eines Mordes gekommen sind, ertappen wir uns dabei, dass unsere Sympathie auf Seiten Borghas ist. Wir rutschen unmerklich in eine Identifizierung mit seiner Macht, wir wünschen uns, ebenso wie er mit Angreifern umgehen zu können. Würde er uns in diesem Augenblick wie Mephisto anbieten, an seinen Fähigkeiten teilzuhaben, wir würden wie Faust darauf hereinfallen.
Nachdem ein letzter Versöhnungsversuch zwischen dem Paradies und der rationalen Welt gescheitert ist, verlässt Borgha endgültig seine Rolle als reale Figur. Er ist nicht mehr ein Mensch, der an einem bestimmten Tag etwas bestimmtes tut: "Borgha aber ging durch die Zeit". Er wird vollends zum Prinzip. Die Erzählung löst sich von der Vergangenheit, huscht wie ein Scheinwerfer über Gegenwart und Zukunft und bleibt schließlich auf einem Bild stehen, vor dem man als Leser nicht sicher ist, ob man es fürchten soll oder ob es nicht auch etwas Faszinierendes hat.
Ein Schluss, mit dem diese Welt endet, von einem Autor, der in allen anderen Veröffentlichungen stets Hoffnung, Lebensfreude und positives Denken vermittelt? Wie passt das zusammen?
Wer nachrechnet, wird feststellen: Das Ende ist nicht so nah wie es scheint. "Und er gab der Menschheit noch so viele Jahre, wie er Sonnen und Planeten in seiner Welt hatte", heißt es in dem Märchen. Schon geringe Astronomiekenntnisse reichen, um festzustellen, daß Bhani uns mit diesem Limit wohl eher ein wenig erschrecken wollte. Eine einzige Galaxie umfasst Milliarden von Sternen - und es gibt Milliarden von Galaxien. Eher hätte das Leben unserer Sonne geendet als dass Bhanis ursprünglich so großzügig gestellte Uhr abgelaufen wäre.
Aber wenn Menschen anfangen, unten an einem Staudamm zu bohren, gibt es nur eine Möglichkeit, die Katastrophe zu verhindern: ihnen so anschaulich wie möglich auszumalen, wie es sein wird, wenn das Wasser des Stausees herunterkommt. Und so erfahren wir gegen Ende des Märchens, dass Bhani in seinem Groll die Zeit zu hektischer Hast beschleunigt. Damit hilft uns das astronomische Nachrechnen nicht mehr, weil wir den Faktor der Beschleunigung nicht kennen. Es könnte sein, dass die Zeit auf ein Zwölftel schrumpft ("...wenn ein Jahr vergangen ist, so haben sie davon nur einen Monat gelebt"). Es gibt aber auch eine Rechtfertigung für die Annahme, die Endzeit könne schon viel näher sein. Nach dem Text fällt die Erfindung der zerstörerischen Sense (nach dem Zeitkontext handelt es sich um die Atombombe; niemand weiß, ob außer Kontrolle geratene andere moderne Technologien uns nicht in der Zukunft auch andere Sensen bescheren werden) auf einen Zeitpunkt, "als die Uhr fast abgelaufen und die vorgegebene Zeit beinahe erfüllt war..."
Dennoch: Es gibt nicht nur die selbsterfüllende Prophezeiung, sondern auch die selbstverhindernde. Karl Marx hat die hässlichen Seiten des Kapitalismus dadurch gemildert, dass er sie anschaulich vorhergesagt hat. Daraufhin bemühten sich seine Gegenspieler jahrzehntelang, zu beweisen, daß der Kapitalismus so schlimm gar nicht sei. Wenn das Märchen Bhani einem einzigen Blinden die Augen öffnet, wird die Geschichte es vielleicht umschreiben und ihm einen erfreulicheren Schluss schenken.
Ich verspreche: Ich werde mich wegen der Neufassung nicht im Grab umdrehen.
Peter Hohl
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