Auf einer Halbinsel, auf der es nichts gab als einen Berg mit einer Quelle, den Wald und das Meer, entdeckte Woda eines Abends eine große Höhle, als er beim Beerensammeln von der Nacht überrascht wurde. Als er sie genauer besah, fand er ein Laublager, und auf diesem saß ein Mädchen, das er nie gesehen hatte. Er kniete bei ihr nieder und bot ihr Beeren aus seinem geflochtenen Weidenkorb dar.
"Ich bin Woda", sagte er.
Und sie antwortete:
"Ich bin Alki".
Und sie nahm von seinen Beeren und aß sie, und auch Woda aß
davon. Sie tastete in der Dunkelheit nach seinem Gesicht und sagte:
"Ich kenne dich nicht".
Woda setzte sich zu ihr. Er betrachtete sie mit seinen Händen und
sagte:
"Du bist schön, Alki".
Und als sie alle Beeren gegessen hatten, schliefen sie in der Höhle.
Als der Tag graute und die Frühnebel sich in die Höhle legten,
stand Woda auf und sagte:
"Ich suche uns etwas zum Essen".
"Ja, Woda", antwortete Alki.
Und Woda ging hinaus mit dem ersten Gesang der Vögel. Alki stand in der Höhle und schaute ihm nach, wie er im dichten Gebüsch verschwand. Und obwohl sie nicht wusste, was Lüge ist, verstand sie doch, dass sie jetzt allein war. Und sie begriff auch, dass sie jetzt eine Frau war, und sie wusste, dass sie nicht mehr zu den ihren konnte, zu ihrem Vater und ihren Brüdern, die sie gestern beim Sammeln verloren hatte. Sie trat zu dem Busch, hinter dem Woda verschwunden war; sie sah seine Schritte im taufeuchten Gras, und sie sah einen gebrochenen Zweig, den er gestreift hatte. Und als sie all das lange Zeit angestarrt hatte, hob sie den Blick über die wogenden Bäume auf das offene Meer hinaus. Ganz weit draußen stand die halbe Sonne und verkündete Alki den Tag und das Leben. Lange, blaue Frühschatten warf sie an die Steinwand und durchzog die diesige Frische mit ihrem Gold. Alki fröstelte. Sie setzte sich vor der Höhle auf einen gestürzten Stamm und dachte lange nach. Sie fühlte keinen Schmerz um den, der da gegangen war, sie spürte die Leere um sich und die Einsamkeit in sich. Und wenn sie denken wollte, war überall der Zugang versperrt.
Als die Sonne hoch am Himmel stand, stieg Alki hinunter und sammelte
Früchte. Dabei stieß sie wieder auf Wodas Spur. Und sie ertappte
sich dabei, wie sie der Spur nachging und ihre kleinen Füße
in die großen Stapfen setzte. Sie blieb stehn und sagte laut:
"Nein, es hilft nichts".
Dann kehrte sie um und lief zurück, bis sie erschöpft bei der Höhle anlangte. Immer noch versuchte sie, das Weinen zu ersticken; und so lag sie stumm auf ihrem Lager und dachte an den, der gegangen war. Und während draußen die Sonne noch hoch stand, schlief Alki im Dämmerlicht der Höhle, dumpf und schwer und traumlos.
Mitten in der Nacht erwachte sie. Hatte sie nicht eben Wodas Hände gespürt? War da nicht sein Atem? Ein Geräusch! Oder ein Schatten am Eingang der Höhle? Sie versuchte das Dunkel zu durchdringen, sie tastete nach ihrem Traum - mit geschlossenen Augen - doch ihre Finger stießen nur geegn den rauhen Fels.
Da stieg der Schmerz, den sie bisher in seiner dumpfen Breite gehütet hatte, hoch wie ein Springquell. Er füllte sie aus, überflutete sie, sprang hoch und fiel auf sie zurück. Sie kniete auf dem Laub und wusste nichts als dass das Weh sie schüttelte. Und wie sie so kauerte, mit aufgestützten Händen, wusste sie, dass sie Woda liebte.
Als der Krampf sich gelöst hatte, stand sie auf und trat vor die Höhle.
"Es geht nicht anders"; sagte sie; "ich muss ihn suchen".
Ihre Füße glitten über das nasse Gras. Schmal und zierlich
schlüpfte sie durch das Gehölz, schob Äste zur Seite, kletterte
über Stämme. Sie dachte nicht an die Wölfe und Wildkatzen,
sie spürte nicht die Dornen, die ihre weiße Haut zerrissen.
Sie stolperte und fiel und lief weiter, bis sie in der Ebene die Schatten
von fremden Hütten sah. Da blieb sie stehn, und ihr Herz sank, und
sie dachte:
"Wenn er nun eine Frau hat? Hat er gesagt, ich soll ihm folgen? Er
wird mich nicht mehr kennen."
Und sie wandte sich langsam um und machte einen Schritt weg von ihm und noch einen Schritt, und mit jedem Schritt spürte sie, wie ihr Herz härter wurde, bis eine dicke Schale darum lag, die so schwer wurde, dass ihr Druck den Schmerz verdrängte.
Als sie im Morgengrauen wieder bei ihrer Höhle anlangte, wollte
sie Woda nie mehr sehen.
Den Sohn, den sie im darauffolgenden Frühjahr gebar, nannte sie Borgha. Sie wusste nicht, ob er seinem Vater ähnlich sah, denn die Erinnerung an ihn war verschwommen.
Sie zeigte dem Sohn den Wald und das Gras und das Meer und die Sonne.
Und sie zeigte ihm die Sterne und sagte:
"Das ist Bhani. Seine Liebe ist in uns".
Der Sohn nahm alles auf, und als er alt genug war, sagte sie ihm, dass es bei den Flüssen in der Ebene Menschen gebe, die so seien wie sie, und dass es dort auch einen Vater gebe, der Woda heiße. Der Sohn verstand nicht, was Vater ist. Aber er verstand, dass Menschen bei Menschen sein müssen und der Sohn beim Vater und der Vater bei der Mutter.
Er saß auf einem Stein bei der Höhle, und Alki merkte, dass er nicht mehr zuhörte. Da ging sie hinaus in den Schnee und sah die Spur eines Bären und daneben eine Schleife, aus der Blut in den Schnee gesickert war.
Sie lehnte sich an einen Stamm, und sie spürte plötzlich, dass sie nun schon alt war. Und eine schwere Ahnung zog ein in ihr Herz und schmolz die Schale, die sie all die Jahre vor dem Schmerz bewahrt hatte.
Sie hielt ein langes Zwiegespräch mit dem Mann, den sie immer noch liebte. Und auf einmal merkte sie, dass sie nicht mehr mit Woda, sondern mit Bhani sprach, und er sagte ihr, sie solle den Dingen ihren Lauf lassen. Denn wenn es den Mann und den Sohn nicht mehr gebe, sei er Bhani, immer noch da.
Sie schaute auf und sah den ersten Stern flimmern, und wie die Dämmerung zwischen die Bäume floss und das Tageslicht sich auflöste, sah sie den zweiten Stern und den dritten, und bald war Bhani ganz um sie. Da war sie ein wenig getröstet, hörte auf zu weinen und schleppte sich auf ihr Lager.
Draußen war die Nacht erfüllt von Tierlauten, die sie nie vernommen hatte; und der Sohn saß immer noch auf seinem Stein und starrte wortlos in das Feuer, das langsam kleiner wurde.
Am nächsten Tag war das Feuer erloschen.
Wenn Alki erwacht wäre, hätte sie gesehen, dass sie wieder
allein war. Aber sie lag bleich und reglos auf ihrem Lager und fühlte
keinen Schmerz mehr darüber, dass Borgha, ihr Sohn sie verlassen hatte.
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