Interpretation "Der Besuch"

Natürlich ist es ein sehr trauriges Gedicht. Der Besucher trägt eine Liebe in sich, die nicht kalt werden will, obwohl sie ziellos geworden ist. Er versucht gegen seine Tränen anzukämpfen, indem er - mit gespielter Leichtigkeit - Belanglosigkeiten aufzählt. Und jede einzelne entlarvt seinen Schmerz über die verlorene Vertrautheit: Er kennt nicht nur das alte Lächeln, den Teppich und die Bücher; ihm fällt sogar die neue Plombe auf. Und die Beziehung muss auch sehr viel länger gedauert haben als man eine Zahnbürste benutzt, wenn er so viele blaue Zahnbürsten gesehen hat, dass daraus eine Regel geworden ist.

Aber die Beziehung ist vorbei. So sehr vorbei, dass er den Abfalleimer und seine verlorene Liebe in einem Atemzug nennt, anscheinend, ohne dass ihm diese fatale Assoziation bewusst wird.

Auch auf der anderen Seite ist eine Blume eingegangen. Auch da haben sich die verhedderten Fäden in der Zwischenzeit nicht entwirrt. Aber auch da regt sich noch die alte Zuneigung, sonst wäre der Besucher sicher nicht in dieser Wohnung. Noch zumal zu einer Zeit, zu der er beobachten kann, wie jemand sein Frühstücksei aufklopft.

Aber warum ist diese große Liebe gescheitert? Es ist so simpel wie im Leben: Weil jemand seine eigene Sicht der Dinge für die alleinige Wahrheit hielt und meinte, einem geliebten Menschen sagen zu müssen, wie man ein "e" richtig ausspricht oder wie weit man ausholen muss, wenn man sein Ei aufklopft. Und der arme Kerl hat es nicht gelernt. Er verspielt auch die Chance dieses Besuchs und stellt unverbesserlich fest, dass sie immer noch irgendetwas falsch macht.

Darum vor allem ist es ein trauriges Gedicht.

Wenn wir den Autor fragen, wo er die beschriebene Unart so treffend beobachten konnte, dann hat er darauf eine sehr klare Antwort: "Früher dachte ich wirklich, ich beglücke die Welt, wenn ich ihr die Augen dafür öffne, was sie falsch macht. Unter Journalisten eine weitverbreitete Haltung - die die meisten auch noch für eine gute Eigenschaft halten. Falls ich jemals in diesen Fehler zurückfalle, bitte ich alle, die mit mir zu tun haben: Lasst nicht den Blumentopf eingehen, sondern sagt es mir."

Text: Peter Hohl
 
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Letzte Änderung: 1. März 2005
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